Album: Pictures Never Stop
VÖ: 19.02.2010
Label: Staatsakt
Vertrieb: Rough Trade
Ein funkelnder Lotse in der ideologischen Kernschmelze unserer Tage
Die Gentlemen der englischsprachigen Kunstschreibe Jan Verwoert und Jörg Heiser (frieze, afterall etc.) und ihre Third-Order Postpostpoppunk-Gruppe, erweitert um den tschechischen Sinuswellenguru Reznicek (Nova Huta/Groenland Orchester) an Klangerzeugern sowie den halbargentinischen Genfer Ex-Tennisprofi und Pianovirtuosen Thomas Hug am 11-Finger-Klavier. Zusammengehalten wird das heterogene Charakterkonglomerat durch das bosnische Herz, den Balkanfilm-Impresario Jons Vukorep am Adrenalinschlagzeug. Nach zwei Jahren zwischen Transitproberäumen und Karaokeparties heißt es jetzt:
Bitte quer nach vorne raus, Dunkeltanzen war gestern!
Kunstschwärmer stellen sich der Popkritik im Postpopwunderland!
Die Debütplatte im Glanz einer neuen Unverfrorenheit des Umgangs mit Sprachen, Barrieren, atomisierten Stilpartikeln, melodietrunkenem Glück und rhythmischem Kick, Songs, die leuchten. Tunes, Rhythmen, Reime über Stimmungen und Tatsachen. Elf Songs über Illusionen/Anti-Illusionen, Verzauberungen/Entzauberungen – Pictures Never Stop eben. Nennen wir es Popkubismus? Man weiß es nicht. Hoffnungslos wohlgemut, schamlos betrübt und in jedem Fall vorlaut. Der englische Kritiker Dan Fox sagt sie klingen – Achtung Referenzkürzel – wie eine Mischung aus Devo und Belle & Sebastian (während Labelchef Maurice Summen von hinten „F.S.K.“ ruft).
Produziert von Thies Mynther (Stella, Phantom/Ghost, Superpunk, Das Bierbeben), aufgenommen und gemischt mit Johann Scheerer im Cloudshill Recordings, Hamburg.
Was bei diesem Hexengebräu herauskommt, kann und will nicht auf den einen Begriff gebracht werden. Die hybride Unreinheit hat Methode und führt doch zu seltsam klaren Pop-Ergebnissen. Vielleicht lässt sich das am besten am Beispiel der elf Songs auf „Pictures Never Stop“ aufschlüsseln, im Stil des schönen altmodischen Genres der Linernotes von Unterhaltungsplatten:
1. Information Man erzählt die Geschichte einer Begegnung mit einem Herren im strengen Anzug, der behauptet, alles über Deine Zukunft zu wissen. Stell dir einen jungen Mormonen vor, der für die Stasi arbeitet. Die Idee eines „Information Man“ stammt von Ed Ruscha, der in den Sechzigern damit ins Gespräch kam, dass er Swimming Pools und jedes Haus am Sunset Strip fotografierte. Kalifornische Leichtigkeit schleicht sich soulful an.
2. You Were Imagining Things ist kosmisch verstrahlter Discoshit, den eine Person singt, die nicht lieben will, wenn sie Liebe macht und sich und alles danach vergisst. Automatische Lust; you got it all wrong, oder auch nicht, aber wer könnte das schon sagen. Es gibt keine Zeugen. Nur Schmerz und viele Worte.
3. Dare To Be Loved ist eine irdisch verbrannte Vitalpop-Hymne, bei der einen Arsch im Stock haben muss, wer sitzen bleibt. Viele Ängste können Dich quälen. Eine der schlimmsten ist die davor, dass jemand kommt und Dich liebt. Dann gibt es kein Entrinnen mehr. Was tust Du? Sag es mir. Jetzt.
4. Fred, So Einfach Ist Es Nicht: das getriebene Lied von den Eisbergen, die in den Bug einbrechen. Passagiere der Titanic: Nennen wir ihn Fred, nennen wir sie Claire, Yogakurs und Wut: was machen, wenn sie noch viel vorhaben und all das wollen, was alle von ihnen wollen? Was tun mit dem Überdruck? Umwandeln in Gegenenergie (Frühachtziger-Düsseldorf? Spätsechziger-Memphis?), wie es im Traum von einer anderen Musik gelingt.
5. The Lady Gets Around könnte während einer Nacht in Warschau, Sheffield oder Mainhattan spielen, wenn die Handys klingeln und die Ruinen der Moderne im Scheinwerferlicht aufscheinen. Ein Nachtzug fährt vorbei und flötet die synthetische Ohrwurmmelodie. Pictures Never Stop, denn, wenn es um sie geht (und das tut es eigentlich immer) läuft die Kamera, ob’s Dir gefällt oder nicht.
6. Cronenberg: schon wieder Filmbilder. Diesmal David Cronenbergs „It Came from Within“ – Sexbesessene in der Seniorenresidenz – gekreuzt mit Orson Welles und Peter Lorre auf der Flucht. Manchmal fragt man wirklich nach dem Sinn des Lebens, Antwort kommt mit Zombiestimme aus der Leere, alles ist vergebens. Warum dann so episch beschwingt? Weil: Sing es still, yes it’s true, I’m so in love with you.
7. Für den Moment handelt von den Momenten, in denen eine Welt untergeht und eine neue entsteht. Der Kopf wird schwer wie von Opium, doch die am Himmel aufglimmenden Umlaufbahnen von Rhodes-Piano und Pro-One-Tongenerator reißen aus der Paralyse. Gefangenheit und Befreiung zugleich.
8. Jealousy. Wer hätte gedacht, dass man dem antiken Thema Eifersucht noch einmal einen so klaren, genauen Song abringen könnte. Niedertracht in Binnenreimen. Jealous Guy auf Speed. Man beachte den wie ein Popcorn-Tennisball durch die Manege hüpfenden Synthesizer. Und Harmonie singen La Stampa auch gut und gerne. Wohl bekomm’s. Cheers. Alles Gute noch Euch beiden.
9. Beautiful Person klingt wie ein Science-Fiction-Western, bei dem der Showdown im Kompliment gipfelt: was für ein wunderbar unerträgliches Geschöpf du bist. Joy Division in Unterwäsche, Radiohead ohne Überlänge.
10. Tall Order macht kurz vor Schluss nochmal Druck, da muss noch was geklärt werden über hohe Ansprüche, tiefe Bässe und den Überdruss angesichts einträglicher Angebote. Mark E. Smith im Boogie Wonderland? Highheels klackern jedenfalls am frühen Morgen durch`s Bild, dabei hüftenwackelnd wie John Wayne. Ein hymnischer Refrain benennt das Problem, bei Licht zu schlafen.
11. Es Geht Weiter beschließt den Reigen, eine Ballade vom Leben in den Widersprüchen der großstädtischen Gegenwart, mit Nachbarn die Pogo heißen und Schülern, die auf Straßenbahnen warten. Symphonischer Schmelz legt sich wie eine glitzernde Eiskruste über die verfahrenen Verhältnisse. Es geht weiter, fragt sich nur für wen, mit wem.
Dieses brillante Album wird bei allen Altersgruppen beliebt sein und wurde speziell dafür konzipiert, den größtmöglichen kosmopolitischen Appeal vorzutäuschen. Ein funkelnder Lotse in der ideologischen Kernschmelze unserer Tage. Mit seiner so aufwühlenden wie intimen Atmosphäre eignet es sich besonders für tanzende Tischgesellschaften und lauschige Streitgespräche zu vorgerückter Stunde. Zuweilen so vorgerückt, dass man den Begriff der Morgengymnastik ins Spiel bringen könnte.
Good night and good luck…